Digitalisierung – der heilige Gral?

Digitalisierung ist nicht alles

Kaum ein Thema spaltet aktuell die Gemüter so sehr wie die „Digitalisierung“.

Auf der einen Seite haben wir die „Digitalisierungsevangelisten“ – für die stellt die Digitalisierung den Heiligen Gral dar. Ein Leben fernab dieser virtuellen Filterblase scheint diesen Menschen nicht mehr vorstellbar – lustig, dass auch sie dennoch ab und an über den Bildschirmrand blicken, ohne es mitzubekommen. Sei es der Gang zum Lieblingsrestaurant oder der sportliche Ausgleich im Lieblingsverein.

Auf der anderen Seite haben wir die „Hardcore-Analogen“. Das bist du automatisch, wenn du nicht zur ersten Gruppe gehörst – irgendwas dazwischen scheint es aktuell nicht zu geben. Wenn du nicht dafür sein kannst, dann bist du halt dagegen. So zumindest will es diese Logik. Die Hardcore-Analogen wurden von den Digitalisierten längst abgehängt, haben jeglichen Trend verschlafen und sollen sich doch bitte aktuell nicht wundern, dass sie durch Corona am A*** sind – selber Schuld, sagt man, denn schließlich ginge es auch anders. Das beweisen doch viele positive Beispiele aus der eigenen Digitalisierungsfilterblase.

Was heißt das jetzt konkret für mich?

10 Jahre lang habe ich erfolgreiche Live-Performances in ganz Deutschland abgeliefert und meinen Lebensunterhalt bis März komplett damit bestritten. Jetzt bin ich am A*** und selber Schuld, denn ich hab mein Live-Performance-Unterhaltungsgeschäft nicht digitalisiert. Koreanische Bands machen es doch vor – ein Streamingkonzert und sie haben ein paar Hunderttausend verdient. Stimmt, Mist, wieso bin ich nicht selbst darauf gekommen? Sonst vergleiche ich mich doch auch immer mit ACDC! Gleich morgen werde ich mich an die Streams setzen. Es gibt ja jetzt auch viele virtuelle Weihnachtsfeiern, auf denen ich „auftreten“ kann – da geht doch sicher was!

Der Metzger in der Innenstadt ist auch selbst schuld, wenn er jetzt wegen dem Lockdown dicht machen muss. Warum verkauft der denn seine Würste nicht schon längst übers Internet? Da ist doch soooo viel Nachfrage. Die Digitalisierten lieben es – je weniger die vom Bürostuhl aufstehen müssen, desto besser. So viele tolle Angebote machen es doch schon vor: Online-Yogakurse/Tanzkurse/Unterricht. Zoom-Calls sind die neuen Treffen. Mit Bier stößt man nur noch virtuell an – Kneipen brauchen wir nicht mehr. Lasst die einfach zu! Auch Edel-Restaurants werden vollkommen überbewertet: Lieferando macht’s vor. Bestellen ist das neue „Essen gehen“. Ich freue mich schon sehr auf die Zeit, in der auch die Handwerker das endlich begreifen und den tropfenden Hahn remote reparieren – ich kann es nicht leiden, die reinzulassen in mein kleines Einod! Für Ärzte & Chirurgen sollte man auch Weiterbildungen zum Thema „Digitalisierung“ anbieten – so eine DIY OP Anleitung über Zoom würde bestimmt super klappen, dann müssen wir gar nicht mehr ins Krankenhaus!

Genug Äpfel-Birnen-Vergleiche für heute?

So ähnlich geht’s mir, wenn ich diese undifferenzierten Meinungen lese, die draußen seit dem Lockdown die Runde machen.

Es gibt gerade viele Menschen, die unverschuldet in Existenznöte geraten sind und der privilegierte Wohlstandsbürger hat Nichts besseres zu tun als in Punkto Digitalisierung klugzuscheißen und betroffenen Unternehmern/innen ans Bein zu pinkeln. Sorry Leute, aber ich hab mal gelernt: „Wenn Jemand am Boden liegt, dann tritt man nicht nach“ oder besser noch „Wenn man keine Ahnung hat, dann einfach mal die Klappe halten.“ – Täte gut in der aktuellen Zeit!

Versuchen wir das Ganze doch mal differenziert zu betrachten: Ist Digitalisierung die eierlegende Wollmilchsau? Per Definition ist es der Oberbegriff für den digitalen Wandel der Gesellschaft und der Wirtschaft. Es bezeichnet den Übergang des von analogen Technologien geprägten Industriezeitalters hin zum Zeitalter von Wissen und Kreativität, das durch digitale Technologien und digitale Innovationen geprägt wird. Was die Wirtschaft sich daraus verspricht sind Produktivitätssteigerung & Optimierung. Die Corona-Pandemie hat diesen Wandel beschleunigt und ist der Katalysator, schließlich möchte nun jeder auf diesen Zug aufspringen, weil er sich daraus Erfolg & Wettbewerbsfähigkeit erhofft. Doch wie verhält sich das global?

Die internationale Verflechtung von Wirtschaft, Politik, Kommunikation, Kultur und Umwelt hingegen werde ausgebremst, meint die Bertelsmann-Stiftung in ihrem großen Megatrend-Report. „Durch die Digitalisierung erwarten wir eine Verlagerung der globalen Wertschöpfungsketten, weil Effizienzerwägungen zukünftig ein Stück weit an Bedeutung verlieren, Zusammenfassung und dafür Risikomanagement eine größere Rolle bei unternehmerischen und politischen Entscheidungen spielen wird. Eine Konsequenz, die sich daraus ergibt, ist eine stärkere Diversifikation und Re-Lokalisierung von ausgewählten ökonomischen und technologischen Aktivitäten.“

(nachzulesen: https://www.bertelsmann-stiftung.de/fileadmin/files/user_upload/MT_MegatrendReport2_Web_2020_DT.pdf)

Gibt es also nur Gewinner in der Digitalisierung? Natürlich nicht. Am härtesten trifft es den sogenannten „sozialen Konsum“. Beim sozialen Konsum komme erschwerend hinzu, dass – anders als bei physischen Produkten –ein Nachholen des epidemie-bedingten Konsumverzichts nur schwer oder gar nicht möglich sei. Das erhöhe die wirtschaftlichen Schäden für die Unternehmen und Angestellten dieser betroffenen Branchen.

Was könnten mögliche Lösungen sein?

„Für die Wirtschaftspolitik bedeutet dies: Diejenigen, die im Rahmen einer angemessenen Krisenprävention keine digitalen Technologien einsetzen können (oder nur eingeschränkt), müssen im Fall einer erneuten Krise mit ausreichenden finanziellen Mitteln bei der Einkommenssicherung unterstützt werden.“ Es ist nur logisch, dass dieser strukturelle Wandel zusätzlich noch weitere Verteilungskonflikte mit sich bringt. Wieder ein Argument für ein bedingungsloses Grundeinkommen, wenn du mich fragst. Aber das ist natürlich ein anderes Thema.

Fazit: Die Digitalisierung ist nicht die Lösung für alles. Ein „unendliches Wachstum“ ist unmöglich. Viel wichtiger ist es, die Digitalisierung als das zu verstehen was sie tatsächlich ist, nämlich Mittel zum Zweck und nicht der Selbstzweck.

Erst der Mensch und die kulturelle, sowie auch wirtschaftliche Vielfalt, kann einen Gegenpol zu den großen Monopolen bilden. So lange der Mensch seine Mündigkeit nicht aufgibt und an sozialen Werten festhält, bleiben haarsträubende Thesen von „sich der Technik anpassenden Menschen“ und die „vollständige Ablöse durch digitale Prozesse“ (zum Glück) nur Science Fiction Utopien technologiebegeisterter Einzelpersonen. Statt Zukunftsprognosen aufzustellen, sollte sich jeder von uns die Frage stellen in welcher Gesellschaft er in Zukunft leben möchte, welche Werte wir vertreten möchten und welche Rolle die Digitalität in dieser Gesellschaft spielen soll. Möchte ich die Technologie als Werkzeug nutzen oder lasse ich mich „benutzen“?

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