Mit diesem Artikel möchte ich einen Versuch wagen den Themenbereich der Persönlichkeitsentwicklung kritisch zu beleuchten. Bis vor Kurzem noch ging ich von einer positiven Bewegung aus, die dem Menschen zu mehr Zufriedenheit und Glück verhilft. Doch immer wiederkehrende Kritik lässt mich dies mittlerweile überdenken und infrage stellen.
Bei meiner Recherche zu der Thematik fielen mir bereits mehrere Schwierigkeiten auf. Der Markt rund um die Persönlichkeitsentwicklung ist gigantisch und alles andere als überschaubar. Es gibt Zusammenhänge zwischen Job, (Positiver) Psychologie, Psychotherapie, Pädagogik, Esoterik uvm. – Kritische Zungen sprechen auch vom Markt der „Selbstoptimierung„. Themen wie Effizienz, Produktivitätssteigerung o.ä. sind an dieser Stelle nicht weit. Wo wir bereits bei einem Kritikpunkt aus Seiten von Wissenschaft und Sozialforschung wären. Aber eins nach dem anderen.
Weiter fällt auf, dass Persönlichkeitsentfaltung immer wieder synonymisch von Coaches verwendet und mit Persönlichkeitsentwicklung gleichgesetzt wird. Fast erscheint es mir, dass die Coaches selbst eine klare Unterscheidung oder Definition nicht kennen oder diese keine Rolle spiele, da jede:r darunter seine ganz eigenen Ansichten unterbringen und weitergeben könne. Es gibt schließlich auch keine geschützte Ausbildung o.ä. zum „Persönlichkeitsentwicklungscoach“ und darüber hinaus ist auch die Berufsbezeichnung „Coach“ nicht geschützt. Aber das nur am Rande.
Zurück zur Definition: auch hier war es schwierig überhaupt etwas Brauchbares zu finden.
Der Duden hält es simpel und spricht von „der Entwicklung der Persönlichkeit“ und „der Entfaltung der Persönlichkeit“. Nun, das hilft uns nicht wirklich weiter.
Eine interessante Definition liefert „REFA“, der Verband für Arbeitsgestaltung, Betriebsorganisation und Unternehmensentwicklung.
Dort heißt es u.a. „Bei der Persönlichkeitsentwicklung wird auf die Entwicklung der Individualität und Identifikation der Persönlichkeit eingegangen. […] So sind ein Teil der Wissenschaftler der Ansicht, dass ein psychodynamischer Ansatz (Sigmund Freud, Alfred Adler, C. G. Jung) der Persönlichkeitsentwicklung zu Grunde liegt. Andere gehen dabei eher von konstruierten Stufenmodellen der psychosozialen Entwicklung und Identitätsfindung aus (Erik H. Erikson, James E. Marcia) und wieder andere halten eine lebenslange Entwicklung für wahrscheinlich (Paul Baltes) […]“
Und ganz wichtig „aufgrund der vielen unterschiedlichen Einflüsse, die die Entwicklung der Persönlichkeit beeinflussen, gibt es keine genaue Definition der Persönlichkeitsentwicklung.“
Die benannten Theorien habe ich daraufhin gesichtet. Leider würde es allerdings den Rahmen sprengen, wenn ich auf jede einzeln eingehe. So viel sei aber gesagt: ich gehe davon aus, dass die heutige Persönlichkeitsentwicklung der neumodischen Coaching-Szene sehr wenig mit den ursprünglichen Persönlichkeitstheorien aus Psychologie & Pädagogik gemeinsam haben. In den Quellen findet ihr Seiten auf denen ihr bei Interesse selbst ins Detail gehen könnt.
Bei der Definition von Persönlichkeitsentfaltung sah es noch dünner aus, da ebendiese oft als Synonym für obige verwendet wird. Interessant ist (wenn auch in einem anderen Kontext) die juristische und rechtliche Grundlage, welche jedem Menschen per Grundgesetz das Recht auf Persönlichkeitsentfaltung einräumt. (Art. 2 GG (1))
Beide Begriffe (Persönlichkeitsentwicklung und -entfaltung) tauchen in der Coaching-Szene erstaunlich oft im Zusammenhang mit Potentialentwicklung, Veränderung, eigener Berufung, Bewusstsein, Achtsamkeit, Spiritualität, Selbstreflexion- und Selbstakzeptanz o.ä. auf.
Besonders die „positiven Psychologie“ spielt übergeordnet eine große Rolle. Ein Blick auf Wikipedia reicht, um zu verstehen, dass es sich hierbei ebenfalls um ein leicht angreifbares Feld handelt, welches ebenfalls kritisch zu betrachten ist. Es heißt dort „Der Begriff Positive Psychologie wurde 1954 von dem US-amerikanischen Psychologen Abraham Maslow erstmals verwendet und fand in den 90er Jahren durch den US-amerikanischen Psychologen Martin Seligman breite Aufmerksamkeit. Im Gegensatz zur traditionellen defizitorientierten Psychologie befasst sich die Positive Psychologie mit den positiven Aspekten des Menschseins […]“
Maslow bzw. die Maslowsche Bedürfnispyramide dürfte vielen ein Begriff sein. Doch was ist mit diesem Seligman?
Dieser Psychologe entwickelte sich relativ schnell zu einer Leitfigur und löste in den USA eine ganze Strömung aus, welche den „Motivationsmarkt“ buchstäblich überschwemmte und noch heute boomt. Wir können also davon ausgehen, dass auch der Trend der „Persönlichkeitsentwicklung“ seine Ursprünge dort hat.
Auch wenn es erstmal nach einer extrem positiven Bewegung klingt, steht Martin Seligman und die „positive Psychologie“ in harter Kritik. So heißt es ebenfalls bei Wikipedia „die Anhänger würden unter dem Deckmantel eines positiven Menschenbildes einer Ideologie anhängen, die einen Menschentyp nach den Maßgaben ökonomischer Verwertbarkeit proklamiert und glaubt, Menschen umprogrammieren zu können.[…]“
Die Kritik der Ideologisierung und Instrumentalisierung las ich im Kontext von Persönlichkeitsentwicklung immer und immer wieder: „Gurus“, welche Menschen auf der Suche nach sich selbst, einer regelrechten Gehirnwäsche unterziehen, in dem sie ihnen ihre eigenen Werte eintrichtern – nun ja, das zielt natürlich auf alles andere als eine Entwicklung der individuellen Persönlichkeit, sondern ist eher Indoktrination.
Weiter kritisieren Wissenschaftler auch die damit verbundenen falschen Versprechungen. Das Ziel bestünde nicht darin, psychische Leiden zu behandeln, sondern menschliche Ressourcen besser für die Wirtschaft zu erschließen. Experten zeigen sich dahingehend sogar verständnisvoll: denn natürlich sind Versprechen verlockend, die aussagen, dass wir aus uns selbst heraus, ohne auf die Solidarität von anderen angewiesen zu sein, unser Leben managen könnten. Leider ein sehr trauriger und eindimensionaler Trend. Ich, statt Wir. Eine Denkweise, die unserer Gesellschaft keinen Gefallen tut und absolut nicht krisenresistent ist.
Warum boomt „Persönlichkeitsentwicklung“ seit den 90er Jahren so stark?
Dass Menschen nach Entfaltung streben, sich selbst verwirklichen möchten, den Wunsch nach Veränderung haben und sich regelmäßig Sinnes-Fragen stellen ist heutzutage vollkommen normal. Mit dem steigenden Wohlstand und den erfüllten Grundbedürfnissen, entsteht auch der Wunsch nach persönlicher Verwirklichung in Form von individueller Potentialentfaltung (an dieser Stelle nochmal der Verweis auf die Maslowsche Bedürfnispyramide).
Es ist also nicht verwunderlich, dass diese Voraussetzungen den idealen Nährboden für eine wirtschaftliche Antwort in Form von einem Milliardengeschäft für potentielle „Selbstverwirklicher/-innen“ liefert.
Meine persönlichen Gedanken dazu
Ich bin davon überzeugt, dass zufriedene und glückliche Menschen zu einer lebenswerten Gesellschaft beitragen. Daher würde ich aus diesen Gesichtspunkten den Bereich der Persönlichkeitsentwicklung nicht verteufeln. Im „Kleinen“ betrachtet sehe ich nichts Falsches daran, dass Menschen ihre Potentiale entfalten möchten und/oder nach einer besseren Version von sich selbst streben. Ich halte einen gesunden Fokus auf sich selbst für gesund und wichtig. Selbstverwirklichung ist für unsere Entwicklung und unser Wohlbefinden wichtig. Nicht umsonst räumt uns selbst das Grundgesetz das Recht auf Persönlichkeitsentfaltung ein.
Ich spreche im Businesskontext regelmäßig davon, dass unsere Persönlichkeit sich maßgeblich auf unsere Selbstständigkeit/ Unternehmensführung auswirkt. Das tue ich nicht, weil ich an der Persönlichkeit „herumdoktorn“ möchte oder pseudotherapeutische Ansätze vertrete – sondern weil die Persönlichkeit der individuelle Kern des Menschen ist, von dem letztlich alles ausgeht – auch seine Führungskompetenzen. Was mich zu meinem plakativen Slogan „Du bist dein Business“ zurückbringt. Sicher lässt sich dieser diskutieren.
Nach Sichtung der Kritik und besonders global betrachtet wiederum habe ich eine andere Meinung. „Selbstoptimierung“ und der Wunsch nach Selbstverwirklichung folgt immer einer egozentrischen Herangehensweise. Persönlichkeitsentwicklung ist Ich-bezogen. Im großen Stil kann dies also nicht funktionieren. Wenn jeder Mensch auf der Welt nach Selbstoptimierung strebt, dann finden wir uns in einer Welt voller Individualisten wieder, in welcher jeder nur an sich selbst interessiert ist. Aus diesem Blickwinkel betrachtet macht die Bewegung also wenig Sinn. Denn wenn eines klar ist, dann das, dass wir ganzheitlich betrachtet eine Entwicklung vom Ich zum Wir benötigen bzw. in unserer Freiheit und Vielfalt der Schlüssel liegt.
Welches Fazit lässt sich ziehen?
Wie so oft gilt: es ist nicht schwarz und weiß. Trotz berechtigter Kritik gibt es unter den schwarzen Schafen der Coaching-Szene sicher auch professionelle, systemische Denker und Mentoren, die Persönlichkeitsentwicklung nicht instrumentalisieren, um eigene Werte und Weltbilder zu verbreiten, sondern als das verstehen was sie ist: die individuelle Entwicklung/ Förderung einer Persönlichkeit. Experten, die Fragen stellen, statt Antworten zu liefern. So dass jeder seine ganz eigenen, individuellen Antworten finden kann.
Die Sinnsuche und der Wunsch nach Veränderung muss kein Ego-Trip sein. Persönlichkeitsentwicklung kann auch dazu inspirieren sich zu hinterfragen und zu reflektieren, mit dem Ergebnis, etwas Sinnstiftendes für die Gesellschaft leisten zu wollen. Viele soziale Unternehmer z.B. sind achtsame Persönlichkeiten, die mit Sicherheit das ein oder andere Buch über „Persönlichkeitsentwicklung“ gelesen haben.
Auch sollten wir uns klar machen, dass die Entwicklung der Persönlichkeit ein lebenslanger Prozess ist. Wir sind in stetigem Fluss, lernen täglich dazu, verändern uns – und das unabhängig davon ob wir gerade „aktiv“ daran arbeiten und Ratgeber wälzen oder einfach nur leben.
Wie es oft bei Trends und Hypes ist: wir müssen doppelt so kritisch sein wie sonst, um die Spreu vom Weizen zu trennen! Besonders in unserer heutigen Zeit, welche voll von Buzzwords und schönen Versprechungen ist.
Und meine sinnvollste Erkenntnis zum Schluss: bleibt kritisch und hinterfragt euch regelmäßig selbst.
Würde ich dies nicht tun, dann wäre dieser Artikel nie entstanden.
Quellen:
https://www.offensivgeist.de/ueberblick-persoenlichkeitstheorien/#psychodynamische-persönlichkeitstheorien
https://www.duden.de/rechtschreibung/Persoenlichkeitsentwicklung
https://refa.de/service/refa-lexikon/persoenlichkeitsentwicklung
https://de.wikipedia.org/wiki/Positive_Psychologie
http://www.positive-psychologie.ch/?page_id=24
https://www.scribbr.de/modelle-konzepte/beduerfnispyramide-maslow/
https://www.deutschlandfunkkultur.de/positive-psychologie-in-der-kritik-schluss-mit-lustig-100.html